Aus der Familienchronik

Der stärkste Mann der Welt

Als jüngster Sproß eines ostpreußischen Gutsbesitzers und einer berühmten Artistin, die einer russischen Zigeunerfamilie entsprang, wuchs er wohlbehütet in der Nähe von Marienburg im heutigen Polen auf. Die älteren Geschwister nahmen ihr Studium in Königsberg oder Petersburg auf, erlernten ordentliche Berufe und alles deutete auch für den jüngsten Sohn der mit Kindern reich gesegneten Familie auf eine gutbürgerliche Zukunft. Dann jedoch kam der Wendepunkt in seinem Leben: Das Familienoberhaupt fiel dem Alkohol und dem Glücksspiel anheim, die finanzielle Lage wurde zunehmend bedrohlicher. Für den nächstälteren Bruder reichte das Geld nicht mehr, um ein Studium zu finanzieren, und so trat dieser eine Lehre beim Dorfschmied an. Er mußte jedoch seine Ausbildung abrupt beenden, nachdem er seinen Meister mit einer Sense in der Hand durchs Dorf gejagt hatte.

Das Unglück nahm seinen Lauf, der landwirtschaftliche Betrieb wurde veräußert, um die immense Schuldenlast auszugleichen. Der Ältere nahm seinen jüngeren Bruder an die Hand, und gemeinsam zogen sie in den Westen. Sie mieteten eine Wohnung in Gelsenkirchen-Bur und verdienten ihren Lebensunterhalt fortan als Bergarbeiter unter Tage.

Ebenfalls einer alten Familientradition folgend verabscheute vor allem der Jüngere von beiden die geregelte Arbeit, die er alsbald wieder aufgab, um sich ganz dem Sport zu widmen und Gewichtheber zu werden. Sein täglich Brot verdiente er nun von Nachbarn und Bekannten belächelt auf Jahrmärkten, wo er als stärkster Mann der Welt auftrat. Seine unbändige Kraft jedoch ermöglichte ihm die Teilnahme an den olympischen Spielen 1936 in Berlin. Neben den Gewichthebern Josef Manger, Rudolf Ismayer, Eugen Deutsch und Karl Jansen errang auch er heldengleich auf Anhieb olympisches Edelmetall und ging so in die Sportgeschichte ein. Beseelt von seinem glorreichen Auftritt trat er die Heimreise nach Gelsenkirchen-Bur an, um mit Freunden gebührend seinen grandiosen Sieg zu feiern. Im Laufe einer feucht fröhlichen Nacht kam ihm der Gedanke, daß auch diejenigen, die ihn immer belächelt hatten an seinem Erfolg teilhaben sollten. So zog er randalierend durch die Straßen, schmiß Schaufensterscheiben ein und zerstörte das Geschäft eines benachbarten Bäckers, der sich am lautesten über seinen Sport lustig gemacht hatte. Dieser Nacht folgte ein kurzer Aufenthalt im Zuchthaus, später dann wurde er an der Front verheizt.

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